Projektteaser (2022)

GL;TCH
:: musik :: video :: performance :: tanz :: licht ::

Glitch, eine kleine Funktionsstörung, ein kurzzeitiger Ausnahmezustand, eine Irritation im System. Nicht reproduzierbar, provozieren Glitches ein Aufhorchen. Sie reißen heraus aus Situationen oder Abläufen. 
Ursprünglich als unbeabsichtigte grafische Effekte, beispielsweise in Computerspielen, wurden diese Phänomene bereits in den 1990er Jahren ästhetisiert und zu ‘glitch art’ verarbeitet. Doch sind absichtsvolle Reproduktion eines unbeabsichtigten Fehlers überhaupt noch Glitches?
“Sie gehören also zu der kostbaren Kategorie absichtslos entstandener Kunst. Für mich sind sie die vielleicht bedeutendsten, mich am stärksten umtreibenden und elektrisierenden Beispiele surrealer Poesie in unserer Zeit.” (Clemens J. Setz: „Die Poesie der Glitches“)
Auch für uns, Ensemble  s c o p e , ist Glitch mehr als ‘nur’ ein technisches Phänomen. Wir deuten Glitch als gesellschaftliche Metapher: Übertragen auf unsere Gesellschaft ist Glitch eine Intervention und stellt dadurch das vermeintlich Normative in Frage. 
Für GL;TCH sind Künstler*innen aus unterschiedlichen Gewerken zusammengekommen, um dieses Themenfeld multiperspektivisch zu bearbeiten: Komposition, Tanz, Video, Licht, Bühnenbild, Kostümbild, Räumlichkeit und Performance werden zu einem dramaturgischen Bogen verwoben.
Schlaglichtartig wollen wir einige grundlegende und verbindende inhaltliche Aspekte des Abends beleuchten: 

Ghost Glitch
Vinyl Scratching, VHS-Bildfehler, CD-Kratzer, Codecprobleme. Wenn das  Medium „beschädigt“ ist oder das Format falsch konvertiert wurde, kann es nicht gelesen werden. Die gespeicherten Daten können nicht reibungslos wiedergegeben werden: Es entsteht ein Bruch. Da Speicher nicht für die Ewigkeit geschaffen sind, sondern immer nur die aktuelle Gegenwart festhalten, wird in diesem Bruch das Speichermedium als solches sichtbar. Seine Vergänglichkeit kommt zum Vorschein. Ein historisches (Speicher-)Gerät zu reaktivieren gleicht einer Wiederbelebung des Vergangenen, einer Geisterbeschwörung. Das gilt genauso für historische Instrumente, insbesondere für technologisch historische, wie etwa analoge Synthesizer. Für Ouijist soll z.B. ein Omnichord aus dem Jahr 1981 gespielt werden. Da Omnichords nur in geringer Stückzahl gebaut wurden und die Zeit an ihnen nicht spurlos vorüber gegangen ist, sind sie inzwischen zur Rarität geworden. So wird dem Omnichord als digitaler Nachbau in einer App ein gleichzeitig neuer und alter Geist eingehaucht, der nach wie vor live spielbar und somit erlebbar bleibt.

Fehlbare Schöpfer*innen
Glitches als von den Spieleentwickler*innen so nicht beabsichtige visuelle Effekte lenken den Blick auf den_die fehlbare*n Schöpfer*in. Hinter dem „Programmierfehler“ steht der_die Programmierer*in, eine Schöpfer*innen-Figur, ein*e Weltenbauer*in, ein*e Komponist*in, ein*e Demiurg*in – eine fehlbare Figur, deren Failure sich im Glitch manifestiert. Und das Fehlbare als Qualität anzuerkennen, heißt, den Menschen in der allzeit performenden Mensch-Maschine wertzuschätzen.
Der Glitch im Video Game ist so etwas wie das Ende der (programmierten) Welt: Erst durch den Glitch wird ersichtlich, dass es sich bei der Spielwelt um eine begrenzte handelt, dass die Grafik des Spiels stets eine brüchige Oberfläche bleibt, hinter der das Nichts lauert. Somit wird klar: Der Glitch im Video Game hat auch eine existenzielle oder ontologische Dimension.

Der Glitch als Intervention
Wird das normative System unterbrochen, so werden dadurch folgende Fragen aufgeworfen: Was ist diese Norm? Wie funktioniert dieses System? In welchem Betriebsablauf stecken wir? Wenn wir den Glitch als kurzzeitige “Funktionsstörung” metaphorisch auf gesellschaftliche Phänomene übertragen, dann kann Glitch empowernd und enttäuschend zugleich wahrgenommen werden..
Den ermächtigenden Zugang macht sich der „Glitch Feminism” (Legacy Russell) zu eigen. Glitch wird als selbstbestimmtes Ausbrechen verstanden, als Hinterfragen bestehender Konventionen, als mutiger Protest, als Ausrufezeichen! So gesehen ist der Glitch vielleicht seit jeher die treibende Kraft gesellschaftlicher Entwicklung. 
Glitch beruht jedoch auch hier auf einer Differenz zwischen der „Störung” und dem System. Diese Differenz wird markiert und ins Positive umgewandelt – sie ist somit nicht mehr negativ behaftet, dabei aber als “Unterschied” noch nicht überwunden. 

GL;TCH - Sechs Stücke, vier davon extra für diesen Abend neu entstanden, sechs klingende Welten, verschiedene Sichtweisen mit unterschiedlichen Herangehensweisen, die durch Querverbindungen und gemeinsame Kontexte in einer netzartigen Beziehung zueinander stehen. Wir laden Sie ein, mit uns durch diese ungewissen, bunten, grellen, lauten, leisen, intensiven und spannenden Dimensionen der Glitches zu reisen.
Lucia Kilger, Friederike Scheunchen, Clemens K. Thomas


Projektentwicklung und -leitung, zusammen mit Friederike Scheunchen und Lucia Kilger
Works by:
Emilio Guim (UA) | Katarina Gryvul (UA) | Lucia Kilger (UA) | Nicole Lizée | Kelley Sheehan | Clemens K. Thomas (UA)
Ensemble  s c o p e
Ya Chu Yang (horn), Rebecca Blau (flutes), Carlos Cordeiro (clarinet), Robert Menczel (guitar), Paul Ebert (drums, percussion), Katharina Schmauder (violin, viola), James Morley (cello), Anna Stelzner (double bass)
conductor: Friederike Scheunchen
dancer + performer: Ria Rehfuß
videoartist: Martin Mallon
lightartist: Victor Haberkorn
setdesign + costumes: Cornelius Reitmayr
sound direction: OMSLO: Lukas Nowok + Lucia Kilger
projectmanagement: Sarah Kohm
graphikdesign: Maria Herholz
fotos: Marc Wilhelm

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