Eine Stimme, ein Zimmer, ein Mädchen kurz vor ihrem 16. Geburtstag. Ein Haufen abgelegter Puppen. Dann Sprachnachrichten von außen, die schrillen Lacher einer Sitcom, die Urlaubsposts einer Avatarin und der Versuch des Mädchens, diese zu sein, eine andere zu werden, sich zu verkleiden, zu verändern. Wir betreten eine flauschige Welt, in der alles möglich ist. In der Puppen zum Leben erwachen und der Nachbar zur Puppe wird. In der Fleisch zu Plastik werden will und Objekte zu sprechen beginnen.
Dollhouse erzählt von der empowernden Kraft der Cuteness und des Spiels. Wir werden Teil einer Suche nach Zugehörigkeit und Identität, jenseits von normativen (Familien-)Strukturen. „Der Lichtwecker simuliert den ersten Sonnenaufgang, Flugmodus aus, erste Nachrichten treffen ein“ – die Story beginnt.
"Dass diese [...] Kammeroper so unglaublich kurzweilig, unterhaltend und doch extrem komplex geraten ist, liegt an der Überlagerung pseudorealer Ereignisse mit der Fantasie und einer sich verselbstständigenden virtuellen Welt, was sich alles in der Musik umwerfend widerspiegelt." – Helmut Peters, Hamburger Abendblatt, 30.11.24
Auftrag der Staatsoper Hamburg, gefördert von der Claussen-Simon-Stiftung
Libretto: Friedemann Dupelius, Regie: Alicia Geugelin, Musikalische Leitung: Rupert Burleigh, Bühne: Letycia Rossi, Kostüme: Pia Preuß, Dramaturgie: Michael Sangkuhl
Uraufführung: 29.11.24, Opera Stabile, Staatsoper Hamburg
In diesem “Dollhouse” leben wir schließlich alle gemeinsam.
‘We’ll be a perfect family’ – das Puppenhaus als Zufluchtsort
Puppen stehen traditionell für Kindheit und Spiel, Weiblichkeit und stereotype Körper, Care-Tätigkeiten und normative Familienstrukturen. In ihrem Song „Dollhouse“ singt die als Puppe verkleidete Melanie Martinez: “Hey girl, open the walls / Play with your dolls / We'll be a perfect family.” Spiel mit uns, hab uns lieb, sagen die Puppen – und helfen uns zugleich, im Spiel mit der Realität klarzukommen. Die „perfect family“ wird dabei zum unerreichbaren Wunsch und gleichzeitig zum einengenden Gefängnis.
Das Puppenhaus dient als Projektionsfläche, als fantastischer und fantasierter Zufluchtsort. In seinen drei Wänden ist alles möglich und doch bleibt die Frage: Belebt der Mensch die leblosen Puppen im Spiel – oder animieren die Puppen ihn? Lebendig, leblos, belebt – irgendwo dazwischen wohnt die „Puppenseele“, die uns gleichermaßen bezaubert, verstört und verängstigt.
Das Puppenhaus ist aber auch ein miniaturisiertes Abbild der Gesellschaft. In Barbies Dreamhouse wird von Glamour und Konsum geträumt, während ein Puppenhaus aus ökologisch zertifiziertem Holz Mülltrennung und Nachhaltigkeit inszeniert. Die Puppenhäuser spiegeln die Werte ihrer menschlichen Besitzer wider. Und sie erfordern eine Immobilie mit Platz zum Träumen, sowie den Ressourcen, um den Traum konsumierbar zu machen – egal, ob er in Polyethylen oder FSC-Holz geträumt wird. Ein bürgerliches, kapitalistisches Konzept, wenn man es so sieht.
Dass in der cuten Oper „Dollhouse“ Puppen eine zentrale Rolle spielen, überrascht wenig – bemerkenswerter ist, dass das mit ihnen spielende Mädchen kein Kind mehr, sondern ein Teenager ist. Sie teilt sich mit den Puppen ein Zimmer, und in der Bühne von Letycia Rossi sind wir selbst Teil dieses Puppenhauses. Wir befinden uns an einem Ort der Fantasie und des Spiels, die Realität bleibt außen vor – wird aber im Spiel verarbeitet und bewältigt.
Die Puppen spiegeln dabei alles, was sie sehen, sind aber von Normen und Konventionen befreit. Virtuos schlüpfen sie in verschiedene Rollen, etwa wenn sie ihre eigene Version der Sitcom inszenieren, und verweigern das Mansplaining des aufdringlichen Nachbarn. Ihre Sprache ist ein begrenztes Kauderwelsch aus zuvor aufgeschnappten Worten, das uns durch Übertitel verständlich gemacht wird. Aber ihr Wortschatz wächst zunehmend. Sie hören uns Menschen genau auf die Lippen!
Auch Synthia, die Avatarin, kann als digitale Puppe gelesen werden. Anders als die Puppen im Dollhouse übererfüllt sie die Konventionen, in ihrem Fall die der sozialen Medien: Mit hyperauthentischen Selbstzweifeln und einer idealisierten Ästhetik verkörpert sie das Stereotyp der Travel-, Lifestyle- und Food-Influencerin, immer in Interaktion mit ihrer Community. Insgeheim aber wünscht sie sich einen Körper, aber nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Kunststoff.
Cutes Maunzen, Glockenspiel-Geklimper und Autotune – Die Stimmen im “Dollhouse”
Das „Dollhouse“ wird zwar von Puppen belebt, im Zentrum steht aber das jugendliche Mädchen. Singend öffnet sie uns ein Fenster zu ihrem melancholischen Innenleben. Anspielungen auf Songs wie Billie Eilishs „What Was I Made For?“ treffen auf barocke Affektmuster wie Seufzer und Lamento. Die zwischen uns platzierten cute objects reagieren auf ihren Gesang, durch Maunzen, Niesen oder ein kollektives „Aww“. Wie ein griechisch-antiker Chor kommentieren sie das Geschehen, spiegeln aber zugleich die Gefühlswelt des Mädchens wider.
Der Nachbar entwickelt in seinen drei Melodramen seine multiplen Persönlichkeiten und wird so zu einer absurden und komischen Figur. Als Erzähler spricht er melodiös wie David Attenborough, als YouTube-Coach strotzt er vor Selbstgewissheit. Als Erzähler und YouTube Coach ist seine Musik der Welt des Konsums, Gamings und der Werbung entnommen. Als Nachbar trällert er Operettenmelodien von Franz Lehár oder Eduard Künneke, die ihn zugleich altbacken, cringe und doch irgendwie rührend erscheinen lassen. Diese scharf geschnittenen Melodramen, in der seine drei Persönlichkeiten sich abwechseln, sich widersprechen und sich selbst ins Wort fallen, sind ein Medienbastard zwischen Unterhaltungskultur und nostalgischer Überhöhung.
Die Puppen wiederum sind anarchisch, bisweilen kippt ihre Cuteness ins Gruselige. Ihre wuselige Musik klingt verspielt und voller Lebensenergie und wird von Melodika- und Glockenspiel-Geklimper begleitet. Wie der Nachbar stehen sie eher mit der komischen Operntradition in Verbindung, zeigen aber auch in ihren sanften Choräle Momente von berührender Zartheit.
Die Avatarin Synthia bringt schließlich mit ihrer Autotune-Stimme die Pop-Cuteness ins Spiel. Ihre eingängigen Popsongs sind vorproduziert und ‘flacher’ als der Gesang des Mädchens, die der Avatarin ihre Stimme gibt.
Wir dürfen uns wieder berühren lassen - Erzählen in der Metamoderne
Polierter Popglanz und vollgeweinte Kissen, künstliche Körperteile und “echte” Teenage-Gefühle: “Dollhouse” konfrontiert uns mit Widersprüchen. Wir können bei der Sitcom über ähnliche Diskussionen in unserem eigenen Umfeld, vielleicht sogar über uns selbst lachen. Aber eine Lobeshymne auf Plastik, muss das, darf das in Zeiten verschmutzter Meere wirklich sein? Hand aufs Herz: Wie widerspruchsfrei sind wir selbst? Es ist leicht, über den Nachbarn und seine Fleischeslust zu schmunzeln, doch steckt nicht in uns allen auch ein*e Teilzeit-Nachbar*in, wenn wir uns und anderen die überfordernde Welt zurecht erklären?
Die Kulturwissenschaftler Timotheus Vermeulen und Robin van der Akker beschrieben 2010 den Übergang von der Postmoderne in die Metamoderne. Wir sind mit tiefgreifenden globalen Veränderungen konfrontiert: Klimawandel, Finanzkrise, politische Unsicherheit, digitale Transformation. Die sozialen Medien haben den herkömmlichen Medien die Deutungshoheit streitig gemacht. Das kann überfordernd sein, too much. Die Wirklichkeit ist unübersichtlich und komplex geworden. Der mediale Alltag ist oft widersprüchlich und ziemlich oft auch einfach: random.
Die Metamoderne sieht darin ein Potential. Wir oszillieren zwischen Hoffnung und Melancholie, Empathie und Apathie, Eindeutigkeit und Ambiguität. Wenn man mit dem Paradoxen spielen kann, ohne es auflösen zu müssen, wenn man mit Freude zwischen gegensätzlichen Positionen springt, bekommt man eher Kontakt zur sogenannten Realität als aus der ironischen Distanz der Postmoderne. Stattdessen dürfen wir wieder spüren und uns berühren lassen – von einer Arie, einem Popsong oder einer schluchzenden Plastikkatze. Davon und damit erzählt die cute Oper “Dollhouse”.
Cuteness – im deutschen Sprachgebrauch geht das über bloße “Niedlichkeit” hinaus – wird hier als Haltung verstanden, mit der wir uns der Welt mit Sorge zuwenden und Beziehungen entwickeln und pflegen. Eine cute Oper darf demnach beseelte Beziehungen ernst nehmen und uns Zuschauer*innen post-ironisch berühren. Sie lädt uns ein, uns auf die Intimität und Verletzlichkeit von Momenten einzulassen – und auch unsere eigenen Widersprüche anzunehmen. Sie will nicht provozieren, indem Elemente aus Pop- und Netzkultur in die sogenannte ‘Hochkultur’ importiert werden. Vielmehr öffnet sie den Raum, sich der Welt und ihren Herausforderungen offenherzig und neugierig zuzuwenden. In diesem “Dollhouse” leben wir schließlich alle gemeinsam.
Friedemann Dupelius & Clemens K. Thomas